"Im Gegensatz zu der in der deutschsprachigen Pädagogik traditionell lange Zeit durchdrungenen Ansicht, das Soziale entspringt mentalen Prozessen, verknüpfen Praxistheorien diese logisch mit sozialen Praktiken. Beifolgend rückt die Analyse des praktischen Handelns – und damit verbunden das praktische Verstehen, das praktische Wissen, die Bedeutung der Leiblichkeit und Materialität, die Rolle der Zeitlichkeit und Räumlichkeit, der Routine und Kreativität beim Handeln etc. – sowohl in theoretischen Betrachtungen wie auch als methodologisches Prinzip für empirische Untersuchungen in das Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. dazu etwa Nicolini 2009). Mit dem Verständnis, dass Handlungen weder allein von subjektiven Intentionen und Motiven noch von kollektiven Normen bestimmt werden, sondern in symbolische Wissensordnungen eingebettet sind, wird aber auch der Versuch unternommen, jahrhundertealte in unserer Wissenstradition verankerte Dualismen aufzubrechen. „Grundsätzlich lässt sich jeder Ansatz als Praxistheorie begreifen, in dem ‚Praktiken‘ die fundamentale theoretische Kategorie oder den Ausgangspunkt einer empirischen Analyse bilden und der damit eine Reihe etablierter philosophischer und soziologischer Dichotomien zu überwinden sucht: etwa die Differenz zwischen Struktur und Handlung, Subjekt und Objekt, einer Regel und ihrer Anwendung, der Makro- und der Mikroperspektive sowie zwischen Gesellschaft und Individuum.“ (Schäfer 2012, 18) Praxistheorien kritisieren also die cartesianische Trennung von Bewusstsein/Welt bzw. Geist/Körper, welche mit der rationalistischen Annahme einhergeht, „daß das menschliche Erkennen vom Handeln unabhängig sei oder sich doch zumindest von diesem unabhängig machen könne und solle“ (Joas 1992, 231). Alternativ dazu werden Wahrnehmung und Erkenntnis nicht der Handlung vorgeordnet, sondern als Phase des Handelns aufgefasst, „durch welche das Handeln in seinen situativen Kontexten geleitet und umgeleitet wird“ (ebd., 232).

Es gibt keine einheitliche Praxistheorie, weil die verschiedenen Entwürfe theoretisch unterschiedlich verwurzelt sind und daher andere Begrifflichkeiten benützen. Nicolini (2012, 213) sieht folgende sechs Grundansätze: 1. „praxeology“ (Bourdieu, Giddens), 2. „practice as tradition and community“ (Lave & Wenger), 3. „practice as activity“ (Tätigkeitstheorie: Leontjew, Cole, Engström), 4. „practice as accomplishment” (Ethnomethodologie: Garfinkel), 5. „practice as the house of the social“ (Schatzki) und 6. „discourse and practice“ (Konversationsanalyse, Diskursanalyse, Foucault). Er argumentiert, dass die verschiedenen Ansätze unterschiedliche Vorzüge, aber auch Schwächen aufweisen und plädiert für eine vorsichtige, pluralistische Haltung („adopting a cautious and reflective pluralist stance”, ebd.). Man könnte also sagen, dass die verschiedenen Praxistheorien im Sinne von Wittgensteins Familienähnlichkeiten ohne ein gemeinsames Wesensmerkmal zusammenhängen. Trotz interner Differenzen der ein­zelnen theoretischen Ausprägungen unterscheiden sie sich jedoch alle von anderen Handlungs- und Sozialtheorien auf fünf Ebenen, wie Nicolini (ebd., 3ff) übersichtlich darstellt:

  • Erstens generieren die Praxistheorien ein prozedurales Bild des Sozialen, indem Praktiken bzw. Aktivitäten und Vollzüge in den Vordergrund gestellt werden. Prozedural, weil die soziale Ordnung und soziale Institutionen wie Familie, Behörden, Organisationen aus Routinen und dynamischen Vollzügen entstehen. In diesem Sinne kommt die Praxistheorie ohne die Annahme von eigenständigen und dauerhaften Strukturen, die eine deterministische Wirkung haben (sozusagen „unbewegte Beweger der Praxis“, Hillebrandt 2015, 16), aus.
  • Zweitens wird die Bedeutung sowohl vom menschlichen Körper als auch von materiellen Objekten so aufgewertet, dass Praktiken ohne die körperliche oder die materielle Ebene nicht denkbar sind. Der Körper wie auch die Objekte sind nicht passive Träger des Handelns (kein bloßes Instrument, das AkteurInnen benutzen), sondern Praxis ist das Ergebnis von körperlichen Aktivitäten und Interaktionen mit materiellen Artefakten.
  • Drittens denken Praxistheorien AkteurInnen stets in ihrer sozialen Einbettung. Sie verbinden dies allerdings nicht mit einer deterministischen Vorstellung, was Raum für Initiative, Kreativität und individuelle Ausführung offen lässt. Handeln wird nicht als ‚geistlose‘ Wiederholung verstanden, sondern als Akt, der ständige Anpassung an neue Umstände erfordert. Jede Handlung findet dabei vor einem mehr oder weniger stabilen Hintergrund statt, daher müssen nie vollständige Neuerfindungsleistungen erbracht werden. Aus diesem Grund liegt der Fokus praxistheoretischer Untersuchungen nicht auf dem individuellen Handeln, sondern auf den Praktiken und ihrer Rahmung.
  • Viertens fasst der Praxisansatz Wissen primär als Könnenauf. Als solches kann es nur partiell diskursiv artikuliert werden. Wissen ist immer auch sozial geteiltes Wissen. An einer Praxis teilzunehmen impliziert ein umfassendes praktisch-kulturelles Wissen, wie man etwas tut, wie man spricht, wie man etwas empfindet bzw. wie man sich fühlt, was man erwartet und was andere Dinge bedeuten. An einer Praxis teilzunehmen heißt, dass der/die AkteurIn bestimmte Regeln und Normen kennt und diese akzeptiert. Dabei handelt es sich also um Wissensformen, die nicht als individuell bestimmt werden können, sondern zu einer geteilten Praxis gehören.
  • Fünftens spielen Konzepte von Macht, Zielen, Politik und Konflikt eine zentrale Rolle bei der Analyse von Praktiken, weil Praktiken immer in einem sozialen Feld stattfinden, welches eine Geschichtlichkeit und Materialität aufweist. Praktiken (re-)produzieren soziale Ordnung und finden zugleich innerhalb einer sozialen Ordnung statt, die sich durch Gleichheiten oder soziale Differenzen auszeichnet. Die Praxistheorie bringt also auch einen politischen Blick in die Analyse von Aktivitäten."

(Leicht gekürzter Auszug aus Rosenberger, Katharina (2018). Unterrichten: Handeln in kontingenten Situationen. BeltzJuventa, S. 67-70)